"Nur Du allein kannst es schaffen,

doch Du schaffst es nicht allein."

Rückfall

Die meisten Rückfälle ereignen sich innerhalb des ersten Jahres nach der Behandlung und davon wieder der größte Teil im ersten Halbjahr.

Die häufigsten Anlässe für Rückfälle sind nicht Überredung, Streit oder Zweifel an der Schwäche gegenüber dem Suchtmittel, sondern unangenehme Gefühle: Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, Angst, Gereiztheit, Gekränktsein, unerklärliche Stimmungsschwankungen, Gefühle der Sinnlosigkeit und Leere, Anspannung und Nervosität. Und sie geschehen auch nicht zum größten Teil auf Festen oder in Lokalen, sondern zu Hause!

Rückfälle haben nicht nur sehr unterschiedliche Auslöser, sondern auch ganz verschiedene Verläufe:

Aus irgendeinem der obigen Grunde nimmt jemand einen Schluck Alkohol zu sich. Die verstandesmäßige Begründung lautet oft, man wolle nur einmal ausprobieren, ob es nicht doch noch schmecke und bei dem einen Glas bleiben könne. Aber im Anschluss an den ersten Schluck wird gleich wieder übermäßig getrunken, bis hin zum Kontrollverlust. Und die Trinkerei wird bald sogar noch schlimmer als vor der Abstinenz. Eine andere Form des Rückfalls ist der "schleichende Rückfall". Er entsteht meist aus der Überzeugung, wieder mäßig trinken zu können, gemischt mit dem Vorsatz "Später höre ich ja wieder auf“. Dabei gelingt ein anfangs nur mäßiges oder gelegentliches Trinken, das aber früher oder später in regelmäßigem und übermäßigem Konsum endet.

In einer seltenen Ausnahmesituation wird einmalig wieder getrunken. Solche Situationen können vom "Zuschütten" von Problemen bis hin zum verschleierten Selbstmord, von der feuchtfröhlichen Urlaubs-, Faschings- oder sonstigen "Ausnahmesituation" bis hin zur Einsamkeit, dem wohl häufigsten Anlass reichen. Man kann hier von einem "Ausrutscher" sprechen, wenn er anschließend aufgearbeitet und bewältigt wird, so dass es bei einem einmaligen "Vorfall" bleibt. Ein solcher Rückfall wird aber nur dann zu einem Vorfall, der sich langfristig stabil auf die persönliche Entwicklung positiv beeinflussend auswirkt,

  • wenn man ihn ernst nimmt, obwohl keine Katastrophe daraus geworden ist,
  • ihn als Zeichen interpretiert, dass eine Lebensaufgabe nicht gelöst ist oder Lebensereignisse nicht angemessen beachtet wurden,
  • sofort Außenstehende hinzuzieht, die einem helfen zu sehen, wofür man selbst offensichtlich einen "blinden Fleck" hat ("Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir nicht selber sagen" heißt es in einem äthiopischen Sprichwort),
  • alles in den Vordergrund stellt, was zur Abstinenzsicherung beiträgt, also nicht zur Tagesordnung übergeht und das unliebsame dumme Ereignis vergisst.

Entscheidend ist stets, dass der Betreffende momentan meint, ohne das Suchtmittel nicht auskommen zu können oder zu wollen. Da dieser vorübergehende Unwille meistens das Ergebnis einer längeren Kette von Handlungen und Gefühlen ist, sagen wir:

Der Rückfall beginnt im Denken meist schon lange vor dem Tun!

Eingeleitet wird ein Rückfall nicht nur von einem Mangel an festem Vorsatz bezüglich der Abstinenz, sondern bisweilen paradoxerweise von einem Zuviel an guten Vorsätzen. Wenn man sich nämlich in dem ersten "Höhenrausch" (Euphorie) der Abstinenz zu viel vornimmt, dann wird die Umsetzung schwierig und es entsteht eine Unzufriedenheit mit sieh selbst. Wird diese Unzufriedenheit dann zu einem Dauerzustand, entsteht daraus bald das Verlangen nach Erleichterung: Im Bewusstsein des Betroffenen bildet sich der Eindruck, dass sich die Abstinenz eben doch nicht "lohnt". Hinzu kommt, dass Abhängige, denen Anerkennung von außen sehr wichtig ist, diese nur anfangs für die abstinente Lebensführung erhalten. Mit der Zeit wird diese Lebensweise für die anderen selbstverständlich, so dass niemand mehr den Alkoholiker dafür lobt oder ihm Anerkennung zollt, was ihn enttäuschen mag.

Das Ausmaß und die Wucht des Rückfalls werden außerdem oft noch davon mitbestimmt, wie lange der Betreffende abstinent gelebt hat und was er damit verbindet. Es scheint, dass Schuld, Scham und Selbstverachtung, wegen der Rückfälligkeit um so größer sind, je länger die Abstinenz schon dauert. Wer nicht Tag für Tag abstinent lebt, sondern die Abstinenztage wie einen Berg Geld auftürmt, der verliert natürlich besonders viel, wenn er mit einem Rückfall alles "Ersparte" in einem großen Loch verschwinden sieht: Mit einem einzigen Glas ist man kein Abstinenter mehr! Man ändert schlagartig seine Identität von "abstinent" in "rückfällig", so dass es dann schon völlig egal ist, wieviel man trinkt. Und jeder Alkoholiker weiß, dass Selbstvorwürfe und Schamgefühle zwar nicht verschwinden, wenn man trinkt, dass sie aber doch irgendwie erträglicher werden.